Morgenrot mit Atomkraft

eine fiktive Geschichte zu einer wiedererwachten Illusion


Fukushima, Tschernobyl, Three Mile Island oder auch Lucens im Kanton Waadt, in all diesen Fällen brannten Atomreaktoren durch. Und wer den Roman Blackout von Marc Elsberg noch in Erinnerung hat, weiss, dass die Kühlung von Atomreaktoren schon wenige Tage nach einem Stromausfall ausfällt. Der Krieg in unmittelbarer Nähe von Europas grösstem Atomkraftwerk in Saporischja lässt uns auch wegen eines möglichen Reaktorunfalls den Atem anhalten. Völlig ungelöst ist die Lagerung der abgebrannten hochradioaktiven Brennstäbe. Fachleute rechnen mit mehreren zehntausend bis hunderttausenden von Jahren, während der sie sicher gelagert werden müssen, bis sie für Mensch und Umwelt keine Gefahr mehr darstellen.

Nach der Katastrophe in Fukushima 2011 haben sich mehrere Länder aus der Atomkraft zur Stromerzeugung zurückgezogen oder wollen dies in den nächsten Jahren tun. Global gesehen geniesst die Atomkraft jedoch Auftrieb. Allein in China sollen in den nächsten 15 Jahren 45 neue Reaktoren in Betrieb genommen werden. In der Schweiz wurde der Bau neuer Kernkraftwerke nach Fukushima verboten. Die bestehenden Kernkraftwerke dürfen in Betrieb bleiben, solange sie sicher sind. Sie dürfen nach ihrer Abschaltung aber nicht ersetzt werden, so will es das Kernenergiegesetz. Und doch, angesichts der Stromproduktionsengpässe, welche auch bedingt sind durch verschlafene Investitionen in alternative erneuerbare Energien, soll die Atomenergie nun doch wieder Bedeutung erlangen.

Der neue Energieminister spricht zusammen mit seiner Partei und Gleichgesinnten davon, das sogenannte Technologieverbot zu überwinden. Letztlich soll damit der Weg für neue Atomkraftwerke politisch, vor dem Volk, geebnet werden. Dabei wird das Bild einer sauberen und sicheren Energie gezeichnet, als ob keine Verstrahlungsgefahr bestehen würde und die Lagerung der Abfälle für zehn- bis hunderttausende von Jahren gelöst wäre. Es würde nicht verwundern, wenn die Illusion einer für Mensch und Umwelt unbedenklichen Energieproduktion noch mit dem Bau von Schutzbunkern untermauert würde.

Zur Illusion die folgende Geschichte:

Trittst im Morgenrot daher …

Das Signal ist nicht zu überhören, es tönt schrill. Wie lange hat Mada auf dieses erlösende Zeichen gewartet. Das Signal zeigt ihm an, dass es ihm erlaubt ist, die Panzertüre zu öffnen. Das Risiko einer lebensgefährdenden Strahlung besteht nicht mehr, die Messwerte sind unter den entsprechenden Grenzwert gefallen. Noch zögert Mada, seine einer Mönchsklause ähnlichen Bleibe zu verlassen. Gleichzeitig steigt ihn ihm jedoch ein seit Monaten nicht mehr erlebtes Glücksgefühl hoch. Erinnerungen an ungehindertes Leben im Freien kommen unvermittelt auf. Wie glücklich wird er sein, draussen, an der frischen Luft, auf der Terrasse seines Hauses, das über dem Bunkereingang steht.

Seit der Katastrophe sind genau 278 Tage vergangen. Nach einem europaweiten Blackout konnten verschiedene Kernkraftwerke nicht mehr rechtzeitig abgeschaltet werden, die Meiler brannten durch. Ein Super-GAU! Die Strahlenbelastung überschritt binnen Stunden lebensbedrohliche Werte. Mada entschied sich rasch, in den unterirdischen Schutzraum zu zügeln, alleine. Seine Familie befand sich in der Südsee auf einem Adventure Trip.

Als CEO einer Rohstoffhandelsfirma war Mada gewohnt online, vom Heimoffice aus zu arbeiten. Dank seiner Vorkehrungen sollte es ihm möglich sein, von seiner unterirdischen Bleibe aus wie gewohnt zu kommunizieren. So jedenfalls hatte er es sich vorgestellt. Schon rasch wurde ihm jedoch klar, dass er nur mit den Kollegen und Kolleginnen des obersten Kaders der Firma dank spezieller Kommunikationskanäle Verbindung hatte. Das Gros der Mitarbeitenden war nicht erreichbar. Hatte er dieses Szenario komplett ausgeblendet?

Vor knapp zehn Jahren, nach der Katastrophe in Fukushima, hatte sich Mada entschieden, sich und seine Familie vor einer atomaren Verstrahlung zu schützen. Tschernobyl war ihm in schlechter Erinnerung gewesen, die Verseuchung hatte damals auch die Schweiz erreicht, viele Lebensmittel hatten zu hohe Strahlungswerte gezeigt und die Furcht vor gesundheitlichen Schäden war im Lande gross gewesen. Für mehrere Millionen – er hatte als alleiniger Sohn eines in der Industrie bedeutenden Vaters ein riesiges Vermögen geerbt -liess er eine Schutzanlage unter seinem stattlichen Grundstück bauen, mit Platz für bis zu 10 Personen. Die Vorräte an Lebensnotwendigem sollten für mehrere Monate des unterirdischen Ausharrens ausreichen. Die Kommunikationskanäle hat Mada seither immer auf dem neuesten Stand gehalten, auch die speziell gesicherten Standleitungen zu Nachbarn und beruflichen Partnern. An Nichts liess es Mada fehlen, so dachte er. Die Familie verbrachte gar regelmässig probeweise mehrere Tage im Schutzraum.

Trotz all der akribischen Vorbereitungen traten bald erste unangenehme Überraschungen ein. Ausser der Standleitung zu einem Nachbarn fielen alle Kommunikationswege schon nach wenigen Wochen aus. Die eingelagerte Nahrung fiel ihm buchstäblich auf den Magen, einiges war verdorben, anderes bereitete ihm arge Verdauungsbeschwerden. Seine Firma musste den Betrieb ebenfalls rasch einstellen, viele Mitarbeitende wurden krank oder starben. Am schlimmsten war das Alleinsein. Seine Familie blieb am Ferienort, eine Rückreise in die verstrahlte Heimat kam nicht in Frage.

So ist das Glücksgefühl unbeschreiblich, jetzt, wo es ihm die Lage erlaubt, nach draussen zu gehen. Sorgfältig und mit pochendem Herzen bewegt er die schweren Hebel und mit einiger Kraft wuchtet er die Eisenbetontüre auf. Von der Sonne geblendet tritt Mada ins Freie. Ein Strahlenmeer! Nur langsam gewöhnen sich seine Augen an das Licht. Aber nein, kein Morgenrot strahlt ihm entgegen. Das Licht ist ungewöhnlich gelblich-grün. Mada weiss von den Medien, dass das Leben in seinem Land unerträglich geworden ist, doch was Mada erblickt, schockiert ihn. Er hört keinen Laut, kein Vogelgezwitscher, kein Insektensummen aber auch keinen Autolärm. Verschiedene Häuser in der Nachbarschaft stehen abgebrannt als Ruinen, wohl wegen Kurzschlüssen. Die Felder liegen brach oder tragen verfaultes Gras oder Getreide. Wo mögen sich die Leute aufhalten, fragt er sich. Schlimme Ahnungen steigen in ihm auf.

Da entdeckt Mada auf der Terrasse seines unbeschädigten Hauses Zelte, ungeordnet, aus grauen, dunklen Tüchern gebaut. Er hört ein Kind laut rufen, das ihn offenbar entdeckt hat. Mehrere Menschen treten an das Terrassengeländer. Sie zeigen mit ihren bekleideten Armen auf ihn. Sie scheinen alle sehr krank zu sein. Ihre Gesichter, die einzigen sichtbaren Körperstellen, sind über und über mit Pusteln und anderen Hautverwachsungen übersät. Er glaubt zu träumen. Ist dies ein Alptraum? Langsam bewegen sich einige der Menschen zu ihm. Mada erschrickt. Er bleibt unbeweglich vor dem Bunkereingang stehen. Ihm wird langsam klar, dass er nicht die Welt und das Leben vorgefunden hat, auf das er im Bunker so lange gewartet hat. Die Welt ist nicht mehr, was sie vor der Katastrophe war. Wie sollte sie auch.

Die Menschen treten zu ihm. Sie weisen stumm mit ihren Armen auf den Bunkereingang, dann weisen sie auf ihren Mund und auf die Kinder. Mada fühlt sich vom Leben, seinem Leben verlassen, ausgestossen. Ist es das, was er sich vorgestellt hatte, damals, als er beschlossen hatte, sich auf das Schlimmste einer Strahlenverseuchung vorzubereiten, er, der immer ein überzeugter Anhänger der Atomkraft war?

Dies sind die letzten Gedanken, bevor ihm schwarz vor den Augen wird.


Menschen können von ihren eigenen (technologischen) Schöpfungen überfordert werden. Dem Zauberlehrling im Gedicht von Friedrich Schiller passiert genau dies. Wenn die Technologie zur Glaubenssache wird, ist die Illusion nicht weit.

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