Dringend nötig: eine Ökologie-Schuldenbremse

«Wir haben zu viel konsumiert, jetzt kommt der Kater.» Dies sagte der eben abgetretene Finanzminister. Bundes- und Kantonsparlamente beschränken ihre Ausgabenfreude mit Schuldenbremsen. Diese sollen mithelfen, die finanzielle Verschuldung zu bremsen. Für die ökologische Verschuldung hingegen kennen wir nichts Vergleichbares. Der Verlust von Tier- und Pflanzenarten geht ungehindert weiter, die Schuldenlast für kommende Generationen wächst, ungebremst. Wir benötigen eine Bremse für ökologische Schulden.

«Ab wann stört die Menschen der Verlust der Artenvielfalt?» lautete kürzlich die Überschrift einer SRF Nachricht. Offenbar ging die Journalistin davon aus, dass wir Menschen über das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten zwar informiert sind, dass wir dies jedoch nicht als störend oder gar bedrohlich erleben. Ist dies der Grund, dass wir weiterhin Dinge konsumieren, die der Artenvielfalt schaden, und uns politisch gegen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheiten, beispielsweise in Schutzgebieten, wehren? Liegt es daran, dass wir dieses Verschwinden mit unseren Sinnen nicht direkt wahrnehmen?

Vor vielen Jahren durchstreifte ich mit einem Kollegen aus Schweden bei hochsommerlichem Wetter das Grosse Moos, dort, wo die Gemeinden ihr Landwirtschaftsland im Rahmen des Biotopverbundsprojekts renaturiert hatten. Leicht verwirrt fragte er mich, ob ich das Gesumme und Gezirpe der Insekten nicht vermisse, das für ihn zum Hochsommer in seiner Heimat gehöre. Mir war das Fehlen gar nicht aufgefallen!

Das Verschwinden von Insekten entgeht mir, ich erfreue mich weiterhin an Bienen, Wespen und Vögel und an blühenden Wiesen, ich bemerke die Veränderungen der Natur nicht unmittelbar. Und dann gibt es ja noch viele Naturschutzzonen, in denen Tiere und Pflanzen geschützt leben können. So geht es mir manchmal durch den Kopf. Dann kommen mir aber die Bilder aus dem Film «More than Honey» von Markus Imhof über die Bienen in den Sinn, die chinesischen Landarbeiter:innen, die in Handarbeit auf Kirschbäumen sitzend mit Pinzetten die Blüten bestäuben. Auf der Webseite des Films steht ein aufrüttelndes Zitat: «Einstein soll gesagt haben, wenn die Bienen aussterben, sterben vier Jahre später auch die Menschen aus».

Ein Grossteil aller Wild- und Kulturpflanzen werden durch Insekten bestäubt, lese ich. Auch viele Selbst- und Windbestäuber, Getreide beispielsweise, profitieren von Insekten. In einer Studie des Weltbiodiversitätsrats (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services – IPBES) von 2016 steht dazu:
«Fast 90 Prozent aller blühenden Wildpflanzen und mehr als drei Viertel der Nahrungsmittelpflanzen sind zumindest teilweise auf die Bestäubung durch Insekten oder andere Tiere angewiesen. Bestäubte Pflanzen liefern Obst, Gemüse, Samen, Nüsse und Öle, die wiederum zu den Hauptlieferanten von Vitaminen und Mineralien gehören. Außerdem stellen viele von ihnen wichtige Einkommensquellen in Entwicklungsländern dar, zum Beispiel Kaffee und Kakao. Die weltweite Nahrungsmittelproduktion, die von Bestäubern abhängt, hat dem Bericht zufolge einen jährlichen Marktwert von 235 bis 577 Milliarden US Dollars. In den vergangenen 50 Jahren stieg die von Bestäubern abhängige landwirtschaftliche Produktion um das Dreifache. Auch Nichtlebensmittelpflanzen sind auf Bestäuber angewiesen. Aus ihnen werden Biotreibstoff wie Raps- und Palmöl, Fasern wie Baumwolle und Kapok, Medizin und Holz.»

Ökonom:innen versuchen seit vielen Jahren den Geldwert der Artenvielfalt zu ermitteln.


Das Stichwort ist Kostenwahrheit, wie wir sie aus der verkehrspolitischen Diskussion schon lange kennen. Es geht darum die Kosten und den Nutzen einer artenmässig intakten Natur in unseren wirtschaftlichen Überlegungen zu berücksichtigen, als Konsument:innen, wenn wir einkaufen, als Bürger:innen und Politiker:innen, wenn wir über Subventionen für die Landwirtschaft befinden oder wenn wir als Unternehmer:innen das Business Modell gestalten und Banken zur Finanzierung vorschlagen.

Die Berechnungen im Bereich der Artenvielfalt erweisen sich jedoch als äusserst schwierig. In verschiedenen Forschungsprojekten wurde beispielsweise ermittelt, welchen Nutzen Spaziergänger:innen von einem vielfältigen Wald haben, wieviel sie für einen Waldbesuch zu zahlen bereit wären. Die ökologische Bedeutung eines Ameisenhaufens oder einer spezifischen Waldpflanze für die Qualität eines Waldes ist hingegen kaum zu ermitteln, zu vielfältig sind die Wechselwirkungen zwischen Ameisen, der Qualität des Waldbodens und dem Zustand des Waldes an einem bestimmten Standort. Nutzenrechnungen sind aber auch deshalb problematisch, weil nur das, was wirtschaftlichen Nutzen verspricht, auch als wertvoll gilt. Der Eigenwert eines Eisvogels beispielsweise erzeugt kaum wirtschaftlichen Nutzen, es sei denn, er lebe in einem Vogelschutzreservat und werde von Leuten beobachtet, die für den Eintritt bezahlen.

Neben dem Wissen um den Nutzen der Artenvielfalt geht es darum die Kosten für die Schädigung der Artenvielfalt zu ermitteln, damit sie von denjenigen getragen werden, die diese auch verursachen, dass die Preise also diese Kosten einschliessen, die Kostenwahrheit eben. Als Konsument:innen befinden wir uns jedoch in einer paradoxen Situation. Nahrungsmittel aus einer schonenden, ökologischen Produktion kosten mehr als solche, die unter herkömmlichen Bedingungen angebaut werden. Klar, ökologische Produkte verlangen mehr Arbeit. Der ökologische Nutzen, den dieser Mehraufwand stiftet, bleibt jedoch nur ungenügend berücksichtigt. Er stellt eine Gratisleistung an die Gesellschaft und die kommenden Generationen dar. Ebenso wenig werden die ökologischen Kosten, welche herkömmlich angebaute Produkte verursachen, im Preis berücksichtigt. Die Verarmung von Böden, die Belastung von Trinkwasserreserven und der Verlust an Tier- und Pflanzenarten verbleiben der Gesellschaft und kommenden Generationen als Schulden, als ökologische Schulden.

Eine viel beachtete Studie der Forschungsanstalt des Bundes WSL für Wald, Schnee und Landschaft von 2020 zeigt auf, wie staatliche Unterstützungsbeiträge auf die Artenvielfalt wirken. Im Bereich Landwirtschaft sollen gemäss der Studie 46 der identifizierten Subventionen Lebensräume durch intensive Bewirtschaftung und Homogenisierung der Landwirtschaft schädigen, zerstören und verschmutzen. Viele Subventionen wirken partiell oder je nach Umsetzung biodiversitätsschädigend, bei einigen gibt es innerökologische Zielkonflikte. Mit ihrer Subventionspolitik schädigt unsere Gesellschaft also in einem beunruhigenden Masse die Artenvielfalt, so die Autorinnen. Als biodiversitätsschädigend bezeichnen sie Subventionen, welche die Produktion oder den Konsum vergünstigen und damit den Verbrauch natürlicher Ressourcen erhöhen. Sie führen zu Verschmutzung, Störung sowie Verlust von Lebensräumen und darin lebender Arten sowie ihrer Vielfalt.

Im Wesentlichen bezahlt die Gesellschaft den Verlust der Artenvielfalt, nicht heute, nein, sie hinterlässt diese ökologischen Schulden kommenden Generationen. Wie oft mahnte der Finanzminister, dass Schulden dereinst von den Nachfahren zu tilgen sein werden? Gilt dies bei den ökologischen Schulden nicht? Während für den Finanzhaushalt eine Schuldenbremse gilt, fehlt eine solche für den ökologischen Haushalt!

Die Artenvielfalt ist ein typisches öffentliches Gut, eine Allmende, das der Allgemeinheit gehört und um das sich die Allgemeinheit kümmert. Damit jedoch eine solche Allmende von einzelnen Mitgliedern nicht übernutzt wird, gibt sich die Allgemeinheit Regeln, damit alle von den Ressourcen profitieren und diese sich auch regenerieren können. Die berühmte Studie über die «Tragedy of the Commons» von Garrett Hardin 1968 zeigt auf, was beim Fehlen solcher Regeln passiert. Einzelne nutzen die Ressourcen im Übermass, entsprechend ihrer individuellen Bedürfnissen. Die Übernutzung ist die logische Folge davon. Alpkorporationen sind eindrückliche Beispiele dafür, wie festgeschriebene Regeln dem Erhalt und allenfalls der Verbesserung der Weiden dienen, zum Nutzen aller Korporationsmitglieder. Dabei wird beispielsweise festgelegt, wie viele Tiere maximal weiden dürfen (Kuhrechte) oder wer wieviel zum Unterhalt der Alpweiden beitragen muss.

Der Markt kümmert sich um den Nutzen Einzelner und nicht um das Allgemeinwohl resp. die Artenvielfalt als einem öffentlichen Gut. Es sei denn, die Gesellschaft (resp. der Staat) setze dem Markt Grenzen, wonach beispielsweise eine gewisse Artenvielfalt garantiert bleiben müsse. Derartige Regeln kennt unsere Gesellschaft bislang nicht.

Bemerkenswert ist, dass auf globaler Ebene die eben zu Ende gegangene internationale Biodiversitätskonferenz von den Ländern verlangt, dass sie dreissig Prozent ihrer Landes- und Meeresflächen unter Schutz stellen (dazu Swissinfo). Für die Schweiz ist es möglich, in der Raumplanung der Biodiversität Rechnung zu tragen und Gebiete unter Schutz zu stellen. Ebenso sinnvoll ist es, die in der erwähnten WSL-Studie bezeichneten biodiversitätsschädlichen Subventionen abzubauen. Gerade in der Landwirtschaft ist der Widerstand jedoch vorprogrammiert, heisst es doch vom mächtigen Bauernverband, es gebe in der Landwirtschaft keine derartigen biodiversitätsschädigenden Subventionen mehr.

Die politische Auseinandersetzung ist voll im Gang. Gemäss einer SDA-Meldung vom 14. Dezember 2022 will das Parlament «mit Rücksicht auf Viehhalter das Ziel bei den Nährstoffverlusten aus der Landwirtschaft tiefer setzen, als es der Bundesrat in einer Verordnung vorsieht.» Eine Reduktion der Stickstoff- und Phosphor-Verluste in der Landwirtschaft bis 2030 um je mindestens 20 Prozent sei nicht umsetzbar, so ein Landwirtschaftsvertreter im Nationalrat. Nur knapp lehnte der Rat die Streichung der Biodiversitätsvorgaben von 3,5 Prozent an Biodiversitätsförderflächen auf der Ackerfläche ab!

Soll die Artenvielfalt erhalten werden – und wir wissen wie überlebensnotwendig eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt ist – …


… dann benötigt unsere Gesellschaft dringend Regeln, mit denen das Machen von ökologische Schulden, welche die kommenden Generationen zu tragen und zu tilgen haben, endlich gebremst wird, eine ökologische Schuldenbremse!

Hinweise:

Play SRF – 3Sat Nano: Das Ringen um die Vielfalt, vom 16.12.2022 (28′ Video)
Der Zustand unserer Natur betrifft uns alle – und er ist schlecht. Die biologische Vielfalt verringert sich trotz aller Bemühungen dramatisch. Über eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht.
Vom 7. bis 19. Dezember 2022 fand in Montreal die Weltnaturkonferenz statt. Dort sollte endlich ein weltweites Naturschutzabkommen ausgehandelt, 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter Schutz gestellt werden.

Das 2022 gegründete Netzwerk «Agroecology_works» fordert in seinen politischen Empfehlungen unter anderem die Bewahrung der genetischen Vielfalt, einem Kernelement der Agrarökologie, als Grundlage eines nachhaltigen Ernährungssystems. Sie müsse daher erhalten und nachhaltig genutzt werden.
Das Netzwerk will das Bewusstsein und das Verständnis für Agrarökologie in der Schweiz zu stärken und Synergien zwischen den verschiedenen Akteuren der Landwirtschaft und des Ernährungssystems in der Schweiz und global fördern. Es geht bei der Agrarökologie darum, dass die Landwirtschaft und das Ernährungssystem die Ressourcen effizienter nutzen, die Belastbarkeit und die Widerstandsfähigkeit («Resilienz») stärken und soziale Gerechtigkeit und Verantwortung gewährleisten.
Das Netzwerk richtet seine Tätigkeiten auf die Veränderung des öffentlichen Bewusstseins und der politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz aus. Der Verein dient als Austauschplattform für praxisnahe Ideen und Beispiele und fördert auf diese Weise die Verbreitung der Agrarökologie. Er spricht sowohl Bäuerinnen und Bauern, Konsumentinnen und Konsumenten, Politikerinnen und Politiker, Unternehmerinnen und Unternehmer, Bildungs-, Beratungs- und Forschungsorganisationen als auch Entwicklungsorganisationen an.
Die politischen Empfehlungen des Netzwerks fassen dessen Haltung zusammen und schlagen konkrete Schritte vor, wie wir unser Agrar- und Lebensmittelsystem nach den Prinzipien der Agrarökologie ganzheitlich umgestalten können.

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