Interessenpolitik, …

… eher als Neutralitätspolitik

Der Nationalrat hat am vergangenen 9. Mai beschlossen, das Militärbudget um 40 Prozent zu erhöhen und es gleichzeitig mit der Wirtschaftsleistung der Schweiz zu verknüpfen. Bereits wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wurde dieser Vorstoss lanciert. Wozu diese Mittel genau dienen sollen, bleibt auch nach der Ratsdebatte nicht klar, ebensowenig wie das, was eigentlich zuerst klar sein müsste: Wie schätzt die Regierung die aktuelle Bedrohungslage – allenfalls neu – ein und wie will sie die Sicherheit der Bevölkerung entsprechend – allenfalls anders als bisher – schützen.
Die Antwort darf sich nicht alleine auf die militärische Verteidigung beziehen, sind es doch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichheiten und Benachteiligungen, die das friedliche Zusammenleben gefährden und zu Konflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen führen können. Es muss die Schweiz kümmern, dass unrechtmässige Gelder den Weg in unser Land finden und dass Oligarchen und andere Barone ihre speziell für ärmere Länder wirtschaftlich nachteiligen und menschenrechtsverachtenden Rohstoffhandelsgeschäfte hier geschützt tätigen können. Eine nicht nur militärisch ausgerichtete Sicherheitspolitik nützt sowohl der schweizerischen Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinschaft, so wie dies die Diplomatie mit den guten Diensten und das IKRK und Organisationen für humanitäre Hilfe und den Schutz der Menschenrechte tun.
Wir rufen das Parlament dringend auf, seinen engen und einseitigen Blick auf das Militärbudget zu erweitern. Oder sollen die höheren Militärausgaben dereinst mit Einsparungen bei den guten Diensten und der internationalen Hilfe für sozial und wirtschaftlich Benachteiligten kompensiert werden müssen?

Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der Verantwortung der Schweiz steht die Neutralität, und wie sie die Schweiz politisch gestaltet, in der Kritik.
So mahnte der Präsident der Mitte-Partei, die Neutralitätspolitik der Schweiz sei zu überdenken. Es ist – mit seinen Worten – unanständig, wenn die Schweiz Waffen nach Saudi-Arabien liefert (im Jahre 2020 für über CHF 10 Millionen) und gleichzeitig der Ukraine keine Munition schicken will oder darf. Es bleibt mit Blick auf die Neutralität auch stossend, wenn sich die Politik weiterhin dagegen wehrt, dass Treuhänder:innen den Transparenzvorschriften des Geldwäschereigesetzes nicht unterstellt sind und deswegen schmutzige Gelder unentdeckt bleiben.
Der Bundespräsident hat anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos den Begriff der «kooperativen Neutralität» ins Spiel gebracht. Die Verletzung des Völkerrechts sei im Falle der Ukraine derart massiv, dass auch die Kooperation grösser geworden sei, so seine Begründung. Die Schweiz setze sich für eine regelbasierte und stabile multilaterale Sicherheitsarchitektur ein. Dies war bereits für seine Vorgängerin klar: die Schweiz mit ihrer «aktiven Neutralität» stehe auf der Seite des Völkerrechts. (Siehe dazu in der Aargauerzeitung)

Wir stellen uns Fragen

… darüber, wie auf den Angriffskrieg Russlands (oder anderer Kriegstreiber) angepasst zu reagieren ist, über die Wege, wie die Menschen hier wie dort in Sicherheit leben können, über den Stellenwert auch ziviler, gewaltfreier Mittel und über die Verantwortung und Möglichkeiten der Schweiz:
– Friede muss fortwährend gestiftet werden, dies ist eine politische Aufgabe (Kant in Wikipedia). Bedeutet dies, dass gewaltsame, kriegerische Auseinandersetzung der «Normalfall» sind? Bleiben gewaltfreie Bemühungen, eine friedliche Welt (heute: in Europa) zu gestalten ohne Aussichten, solange Krieg und Gewalt «normal» sind? Ist gewaltfreier Widerstand gar naiv, gefährlich, defätistisch angesichts des «Normalen»?
– Was bedeutet Verteidigungsbereitschaft militärisch? Ausschliesslich defensiv, wie wir dies für die Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten zu verstehen geglaubt haben? Was bedeuten offensiv-präventiv einsetzbare Waffen wie der mögliche neue Flieger F-35? Welchen Platz haben gewaltfreie Mittel, gewaltloser ziviler Widerstand, Diplomatie und internationale Zusammenarbeit? Und: Ist in jedem Fall Verteidigung bis zur vollständigen Zerstörung von Leben und (auch materiellen) Lebensgrundlagen geboten?
– Will die Schweiz wie in früheren Kriegen ihre Sicherheit damit verbinden, dass Personen und Staaten von der Schweiz aus wirtschaftlich tätig sein können, auch dann, wenn sie das Völkerrecht, internationale Vereinbarungen und nationale Gesetze missachten? Will die Schweiz ein Hort für zweifelhafte Geschäfte bleiben und davon fiskalisch und politisch profitieren? Warum wird dies ethisch und moralisch immer wieder als vertretbar betrachtet?
– Die Schweiz ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft und ist damit de facto Partei auf der internationalen Bühne. Müsste sich die Schweiz nicht in Bündnissysteme der westlichen Welt einbringen und Verantwortung für die umfassende Sicherheit der Menschen in dieser Region mittragen? Ist die Schweiz nicht so oder so in ihrer Verteidigungsfähigkeit auf ihre Nachbarn resp. die Länder der westlichen Wertegemeinschaft angewiesen? Wird damit eine derartige Mitverantwortung nicht zur Pflicht unseres Landes?

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine:
– Welche Verantwortung trägt die Schweiz in der Unterstützung und Befähigung der Ukraine zur Durchsetzung der Selbstverteidigung und Sicherung der Unabhängigkeit gegen den völkerrechtswidrig angreifenden russischen Aggressor?
– Ist die Weigerung resp. die mit der Neutralität rechtlich nicht vereinbare Lieferung von Kriegsmaterial an die Ukraine nicht indirekt eine Unterstützung Russlands? Zeigt uns der Angriffskrieg Russlands nicht die Grenzen des Neutralitätsrechts auf, wenn damit indirekt der völkerrechtswidrig handelnde Aggressor «ein leichteres Spiel» hat?
– Steht die Schweiz, als neutralitätspolitisch umstrittener Rohstoffhandelsplatz Russlands, eventuell indirekt auf Seiten Russlands?
– Als UNO-Mitglied hat sich die Schweiz verpflichtet, die Beschlüsse der UNO – die Beschlüsse des Sicherheitsrats sind verbindlich – zu achten. Dies gilt ebenso für internationale Konventionen wie zum Beispiel die Menschenrechtskonventionen, welche die Schweiz ratifiziert hat. Damit kann und darf sie das völkerrechtswidrige Handeln Russlands nicht unterstützen. Wie weit darf sie bei der Abwägung ihrer eigenen Interessen wie beispielsweise den Verlust von Handelsmöglichkeiten, von Steuerausfällen oder Arbeitsplatzverluste gehen?

Was uns wichtig ist:

Die Schweiz ist global und umfassend betrachtet nicht neutral. Sie ist Teil der westlichen, europäischen Werte- und Staatengemeinschaft, mit einer gemeinsamen kulturellen, politischen, sozialen Vergangenheit. Sie hat in dieser Gemeinschaft seit Jahrhunderten einen ihr eigenen Platz eingenommen, von den Mächten zugeordnet, aber auch selber erkämpft, erarbeitet und erreicht.

Wenn die Schweiz als neutral gelten kann, dann ausschliesslich im Zusammenhang mit der völkerrechtlich verankerten Verpflichtung, sich nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten zu beteiligen. Wie auf Wikipedia (siehe unten) festgehalten, geht diese Neutralität auf den Wienerkongress und den Zweiten Pariser Frieden von 1815 zurück und wird 1907 im Haager Neutralitätsabkommen völkerrechtlich anerkannt.

Im Zusammenhang mit der rechtlich verankerten Neutralität stellt sich, wie die Diskussion um den Ukrainekrieg zeigt, die Frage, ob die Schweiz (und andere vergleichbar neutrale Länder) angesichts der indirekten Begünstigung des militärisch Stärkeren, Russlands, überhaupt neutral im auch rechtlichen Sinne sein kann. Dem Schwächeren nicht zur Seite zu stehen stärkt indirekt den Stärkeren, dies zeigt der Ukrainekrieg deutlich.

Die Gestaltung der Neutralitätspolitik der Schweiz widerspiegelt ein Lavieren zwischen dem Hochhalten von Werten wie den Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Erhalt einer lebenswerten Umwelt einerseits und den wirtschaftlichen Eigeninteressen, immer verknüpft mit der Unabhängigkeit des Landes, andererseits. Oftmals stehen Arbeitsplätze, Gewinnversprechen und Steuereinnahmen vor dem prononcierten Einstehen für die Menschenrechte oder die Lebensfähigkeit ärmerer und sozial benachteiligter Menschen.

Wir wollen, …

… dass die Schweiz die Neutralität und die Bezeichnung «Neutralitätspolitik» nicht länger als Deckmantel zur Wahrung ihrer – primär wirtschaftlichen – Eigeninteressen nutzt und sie entsprechend von (wirtschaftlicher) Interessenspolitik spricht;
… dass in der Schweiz nur noch dann von Neutralität gesprochen wird, wenn der völkerrechtlich verankerte Begriff gemeint ist.
Und …
… dass sich die Schweiz angesichts ihrer Zugehörigkeit zur westlichen, primär europäischen Werte- und Staatengemeinschaft ausdrücklich dazu bekennt, aktiv an deren Gestaltung mitwirkt und sich für diese Gemeinschaft einsetzt;
… dass sie sich kompromisslos für die in internationalen Abkommen verankerten Prinzipien einer friedlichen, sozial- und menschengerechten sowie ökologisch ausgerichteten Welt einsetzt und selber lebt;
… dass sie weiterhin, auch als Mitglied einer Staatengemeinschaft, gute Dienste anbietet, wie das beispielsweise auch Norwegen – notabene ein
NATO-Mitglied – erfolgreich tut;
… dass die Schweiz zur Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit, Sicherheit, und Verteidigungsfähigkeit mit ihren Partner:innen – Westeuropas – Bündnisse und damit auch Beistandsverpflichtungen eingeht;
… dass die Schweiz ihre Sicherheitspolitik nicht einseitig auf die militärische Verteidigung des Landes, sondern ebenso auf die Beseitigung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ungleichheiten und Benachteiligungen im Land selber wie global ausrichtet.

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Wikipedia sagt zu „Schweiz – Neutralität

Die Neutralität ist einer der wichtigsten Grundsätze der Aussenpolitik der Schweiz. Sie bedeutet, dass sich die Schweiz nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligt. Die schweizerische Neutralität ist im Grundsatz selbstgewählt, dauernd und bewaffnet.
Die Signatarstaaten des Vertrags mit der Schweiz gaben im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 mit der Déclaration des Puissances portant reconnaissance et garantie de la neutralité perpétuelle de la Suisse et de l’inviolabilité de son territoire eine Garantie ab, die Unverletzlichkeit und Unabhängigkeit der Schweiz in den 1815 festgelegten Grenzen zu respektieren. Im Gegenzug verpflichtete sich die Schweiz, in künftigen Konflikten neutral zu bleiben.

Das Neutralitätsrecht ist völkerrechtlich anerkannt und seit 1907 im Haager Neutralitätsabkommen kodifiziert und kommt im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zur Anwendung. Im Wesentlichen enthält das Neutralitätsrecht die Pflicht zur Unparteilichkeit und Nichtteilnahme sowie das Recht des neutralen Staates, durch den Konflikt unbehelligt zu bleiben. Die Nichtteilnahme bedeutet, dass das neutrale Land weder mit Soldaten noch mit Waffen direkt auf Seiten eines Kriegsführenden teilnehmen, noch sein Territorium einem Kriegsführenden zur Verfügung stellen darf. Als dritter Punkt darf es keinem Militärbündnis beitreten.

Die Neutralitätspolitik kommt in Friedenszeiten zur Anwendung und soll die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit der Neutralität sichern. Die Neutralitätspolitik ist flexibel und kann äußeren Umständen angepasst werden. Die Schweiz hat im Laufe ihrer Geschichte die Neutralität immer als Mittel zum Zweck gesehen und die Neutralität dem jeweiligen aussen- und sicherheitspolitischen Umfeld angepasst.

Die Neutralität ist weder in den aussenpolitischen Zielsetzungen der Bundesverfassung noch in deren Staatszweck erwähnt. In der Verfassung genannte Zielsetzungen wie die Achtung der Menschenrechte, die Förderung der Demokratie und das friedliche Zusammenleben der Völker können darum als höher gewichtet angesehen werden

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